Literaturnobelpreis 1975: Eugenio Montale

Literaturnobelpreis 1975: Eugenio Montale
Literaturnobelpreis 1975: Eugenio Montale
 
Der Italiener erhielt den Nobelpreis für seine Dichtung, die »menschliche Werte mit großer künstlerischer Feinfühligkeit als Ausdruck einer illusionsfreien Lebensanschauung« deutet.
 
 
Eugenio Montale, * Genua 12. 10. 1896, ✝ Mailand 12. 9. 1981; Gesangstudium, Teilnahme am Ersten Weltkrieg, 1928 Übersiedlung nach Florenz, Leitung des Literaturarchivs Gabinetto Viesseux, 1938 Amtsenthebung aus politischen Gründen, ab 1948 Redakteur der Mailänder Tageszeitung »Corriere della Sera« für Literatur, Musik und Kunst, 1967 Senator auf Lebenszeit.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
Zusammen mit Giuseppe Ungaretti und Salvatore Quasimodo (Nobelpreis 1959) gilt Eugenio Montale als Vertreter des »Hermetismus«, einer Richtung der modernen Poesie, die durch ihren dunklen, vieldeutigen Stil charakterisiert wird. Diese Zuweisung ist, wenn auch mit Einschränkungen, lediglich für das frühe Werk zutreffend. Hier ist der Einfluss der französischen Symbolisten (Arthur Rimbaud, Stéphane Mallarmé, Paul Valéry), aber auch der italienischen »Crepuscolari« (Dämmerungsdichter) zu spüren. Treffender ist für Montale die Bezeichnung »Poetik der Gegenstände«, die besonders für die Lyrik der mittleren Schaffensperiode gilt und auf einen Einfluss von Thomas Stearns Eliot (Nobelpreis 1948) hindeutet. Das Spätwerk Montales wiederum ist in einem intimen Ton geschrieben, der sich der Tagebuchform nähert.
 
 »Ossi di seppia«
 
Die Gedichtsammlung »Ossi di seppia« (italienisch; Tintenfischknochen) zeigt die enge Bindung des Dichters zur Landschaft seiner ligurischen Heimat mit den elementaren Gewalten von Sonne und Meer. Verfehlt wäre aber die Erwartung einer »Naturlyrik« oder gar die Suche nach erhabenen Gefühlen. Wie die Titelmetapher schon andeutet, konzentriert sich der Dichter auf das Strandgut, die Trümmer, die das Wasser an die Strände spült. Olivenhaine, Mauern, trockene Flussbetten, Zitronenduft und Agaven sprechen von der Vergänglichkeit und Zufälligkeit des Lebens. Die einfachen, alltäglichen Objekte werden zum Zeichen des »male di vivere«:
 
Und dann durch die blendende Sonne ziehen /
 
und fühlen mit überraschter Trauer, /
 
wie all dies Leben und sein Bemühn /
 
ein Wandern ist entlang der Mauer, auf der
 
die spitzen Scherben glühn.
 
Immer wieder entzieht sich die Wirklichkeit dem poetischen Wort. In den lyrischen Momentaufnahmen vollzieht sich eine eigentümliche Synthese von sinnlicher Wahrnehmung und metaphysischer Deutung. Das Verschlüsselte dieser Gedichte wurde in der Zeit des Faschismus für viele als Ausdruck des stillen Protests des Dichters, als innere Emigration verstanden.
 
 »Gelegenheiten« und »der Sturm«
 
Dies gilt vor allem für die 1939 erschienene Sammlung »Occasioni« (italienisch; Gelegenheiten), ein Kultbuch in Italien zu dieser Zeit, das die jungen Soldaten in ihren Taschen bei sich trugen. Es verleiht durch seine problematisch-schonungslose Bestandsaufnahme der trügerischen Sicherheit einer verlogenen Zeit eine authentische Stimme.
 
In diesen Gedichten entfernt sich das poetische Wort von der subjektiven Meditation und konzentriert sich auf Gegenstände, die eine eigene Realität stiften. Der Gesang kreist um Amulette und schaurige Dinge, die nur sinnbildlich vorhanden sind und deren Bedeutung im Dunkeln bleibt. Durch eine Welt ohne Bewusstseinserfahrung geistern Frauenfiguren, mythologischen Gestalten gleich, die eine Erlösung aus der Bedrohung der Existenz versprechen. Die Entwicklung vom Atmosphärischen zum Allegorischen tritt verstärkt im Zyklus »La bufera ed altro« (italienisch; Der Sturm und anderes) in Erscheinung. Faschismus und Krieg sind Themen, die zahlreiche Gedichte beherrschen, deren Grundstimmung Pessimismus und Melancholie sind. Die Beziehung zur Natur, die in den »Occasioni« noch vorhanden war, macht einer Welt am Abgrund Platz. Besonders eindringlich ist das Gefühl von Bedrohung und Unfreiheit im großen Gedicht »Nach Finisterre«, das 1943 als selbstständiges Werk erschien.
 
 »Satura«
 
Während in den drei ersten Bänden Montales poetischer Kosmos auf dem Gegensatz zwischen blinder Notwendigkeit und Gnade gründet, sodass die Möglichkeit einer Erlösung nicht ganz verneint wird, ist diese Hoffnung in »Satura« gestrandet. Das Negative und das Positive bilden in der Welt eine undurchdringliche Einheit, sie existieren gleichzeitig. Sonderbarerweise wird, während der Horizont des Dichters sich verdüstert, die Sprache konkreter, leichter, einfacher und ironischer: »Das Ende der Welt hat vielleicht schon stattgefunden, ohne dass wir es bemerkt haben.«
 
»Satura« ist in vier Abschnitte unterteilt, die ersten zwei unter dem Titel »Xenien« sind feinfühlige, melancholische Gespräche mit seiner geliebten verstorbenen Frau. Ihr Tod (1963) hatte eine Wende in der Schreibweise des Dichters bewirkt. Es entstehen kurze unmittelbare, alltägliche Dialoge zwischen ihm und der Verstorbenen, als ob sie noch am Leben wäre : »Zuhören war deine einzige Art zu sehen. Die Telefonrechnung ist auf weniges zusammengeschrumpft.«
 
Der zweite Teil des Werks ist politischer: Seine Verse greifen die ideologischen Illusionen und die menschliche Anmaßung, der Geschichte einen Sinn und ein Ziel zuschreiben zu wollen, an. Die Welt wird als eine Falle für den Menschen betrachtet. Kurz und knapp, aber dennoch konkret nimmt der Dichter gegen technokratischen Geist und Konsumismus Stellung und bedient sich dabei eines ironisch-aufschlussreichen Stils. Montale liebte es, mit feiner Skepsis zu spielen:
 
Und das Paradies? Gibt es ein Paradies? /
 
Ich glaube ja, gnädige Frau, aber die süßen Weine
 
werden heute nicht mehr verlangt.
 
Das vorherrschende Motiv bleibt die Entfremdung zwischen Mensch und Welt. Diese wird in ihrer feindlichen, absurden Dimension erlebt; besser für den Einzelnen ist es, sich jeden Urteils zu enthalten in der Erwartung, dass vielleicht die Zukunft einen Dialog mit der Wirklichkeit anhand eines neuen Wertekatalogs möglich machen wird.
 
Auch im »Diario 71-72« stehen konkrete persönliche Erlebnisse im Vordergrund. Wir lesen ein Tagebuch, das alltäglichen Erfahrungen und der Erinnnerung an Reisen, Erlebnissen und Begegnungen gewidmet ist. Es sind die Lebensumstände, nicht die große Geschichte, die den Dichter beschäftigen. Montales gesamtes Werk eint die illusionslose Art, den Dingen zu begegnen. Seine besorgte Skepsis ist auch im Titel seiner Nobelpreisrede am 12. Dezember 1975 wahrnehmbar: »Ist Poesie noch möglich?« In der Frage zeigt sich die Sorge angesichts einer sich ausbreitenden Reduzierung der Kunst zu einem kurzlebigen Konsumgut. Für den Dichter selbst ist es schwer, eine eindeutige Antwort auf die von ihm selbst gestellte Frage zu finden. Dennoch: Wenn überhaupt Rettung möglich ist, so scheint für ihn die Poesie allein die Kraft zu besitzen, in einer dunklen und negativen Welt einen Funken Licht zu verbreiten. Seinen Lesern hat der Dichter übrigens einen letzten Streich gespielt. In seinem Testament verfügte er, dass 66 Gedichte posthum erst von 1986 an, doch dann in regelmäßigen Abständen, erscheinen sollten.
 
F. Janowski

Universal-Lexikon. 2012.

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